Um das Wesen russischer Frauen besser kennenzulernen, kann es durchaus sinnvoll sein, russische Frauen in der russischen Literatur genauer unter die Lupe zu nehmen. Aus diesem Grund wird im Folgenden die Frauenfigur Tatjana Larin aus Alexander Puschkins Meisterwerk „Eugen Onegin“ vorgestellt. Bis heute gilt die Russin Tatjana Larin als Idealbild der russischen Frau. Dostojewski sah in ihr die reinste Verkörperung des Wesens der russischen Frau, was er in seiner berühmten Puschkin-Rede im Jahr 1880 sinngemäß geäußert haben soll. Bevor wir jedoch zur Charakterbeschreibung Tatjana Larins kommen, wird erst einmal die Rahmenhandlung des Romans „Eugen Onegin“ wiedergegeben.
Handlung des Romans „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin
Der Russe Eugen Onegin ist ein ebenso eitler wie charmanter Junggesselle, der sich in der Rolle des Londoner Dandy gefällt. Er lebt in St. Petersburg, nimmt rege am gesellschaftlichen Leben teil und kennt das Spiel der Leidenschaften. Als er allmählich von Melancholie befallen und von Langeweile geplagt wird, flüchtet er auf sein Landgut, welches er von seinem Onkel geerbt hat. Dort lernt er den schwärmerischen Dichter und gedankenvollen Träumer Vladimir Lenskij kennen.
Lenskij verliebt sich in die Gutsbesitzertochter Olga. Da Lenskij danach trachtet, Olgas Herz für sich zu gewinnen, und sie deswegen immer häufiger besucht, lernt auch Onegin Olga und schließlich auch ihre Schwester Tatjana kennen. Tatjana verliebt sich in Onegin und schreibt ihm, völlig übermannt von ihren Gefühlen, einen Liebesbrief. Onegin weist sie zurück und gesteht ihr, Familie und Häuslichkeit als Begrenzung zu empfinden. Zudem gibt er Tatjana den Rat, sich zu beherrschen und mit Liebesgeständnissen vorsichtiger zu sein.
Melancholie befällt die ebenso traurige wie zerrissene Tatjana, auf der Feier an ihrem Namenstag gibt es allerdings ein Wiedersehen mit Eugen Onegin. Eigentlich wollte Onegin nicht auf der Feier erscheinen, sein Freund Lenskij ließ allerdings nicht locker und überredete ihn, zu kommen. Als Tatjana Onegin erblickt, wird sie fast ohnmächtig und macht sich neue Hoffnungen. Um dem Spuk endgültig ein Ende zu bereiten und sich zugleich auch an seinem Freund Lenskij zu rächen, der ihn quasi zwang, mit auf die Feier zu gehen, beschließt Onegin, ostentativ mit Olga zu tanzen und ihr Komplimente ins Ohr zu flüstern. Lenskij ist hierüber alles andere als begeistert und fordert, von Wut gepackt und völlig überstürzt, Onegin zum Duell auf.
Es kommt zum Duell, in dem Eugen Onegin seinen Freund Vladimir Lenskij erschießt. Von Schwermut befallen und verfolgt von dem blutigen Schatten seines Freundes nimmt Onegin Reißaus und verlässt sein Landgut. Olga lernt nach dem Tod Lenskijs einen Ulanenoffizier kennen, mit dem sie ihre Heimat verlässt. Tatjana wird auf dem Moskauer Heiratsmarkt mit einem General verheiratet.
Jahre später trifft Eugen Onegin die verheiratete Tatjana zufällig auf einem Ball. Als sie miteinander sprechen, bleibt ihr Blick ruhig und kühl. Onegin verliebt sich nun in Tatjana und stellt ihr nach, doch Tatjana zeigt sich weiterhin gleichgültig und unzugänglich. Er schreibt ihr Liebesbriefe, die sie nicht beantwortet. Eines Tages überrascht Onegin Tatjana in ihrem Haus. Obwohl sie ihn noch liebt, weist sie ihn zurück und sagt ihm, dass sie ihrem Ehemann bis an ihr Lebensende treu bleiben wird.
„Eugen Onegin“ – ein realistisch-poetischer Roman
Der Roman „Eugen Onegin“, den Alexander Puschkin selber als „Roman in Versen“ bezeichnet hat, gilt als Meisterwerk der russischen Literatur, da er die Periode des realistisch-poetischen Romans eingeleitet hat. Belinskij, ein sehr bedeutender Literaturkritiker in Russland, bezeichnete den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienenen Roman gar als „Enzyklopädie des russischen Lebens“. Denn zum ersten Mal tauchten in der russischen Literatur Figuren auf, die man mit denselben oder zumindest ähnlichen Eigenschaften in der russischen Realität hätte wiederfinden können: allen voran Eugen Onegin als Inbegriff des überflüssigen Menschen und Tatjana Larin als echte russische Frau mit russischer Seele.
Bemerkenswert ist auch, dass zum ersten Mal der Vorname Tatjana in der russischen Literatur verwendet wurde – ein Vorname, der im 19. Jahrhundert in Russland sehr weit verbreitet war. Im Roman wird dies auch vom Erzähler selbst erwähnt.
Tatjana Larin – im Herzen eine Russin
Also kommen wir nun zur detaillierten Beschreibung der Figur Tatjana Larin, die auch Aufschluss über das Wesen russischer Frauen geben soll. Alle Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: Alexander Puschkin: Eugen Onegin, Reclam, Durchgesehene Ausgabe 2001.
Tatjana Larin wird als scheues, trauriges und schweigsames Mädchen vorgestellt (vgl. S. 45), das sehr nachdenklich ist und den Sonnenaufgang genauso liebt wie schöne Romane. Onegin selbst beschreibt die junge Tatjana nach ihrem ersten Treffen als „schwermütig und still“ (S. 56), sagt seinem Freund Vladimir Lenskij aber auch, dass er sich, wenn er ein Dichter wie Lenskij wäre, Tatjana ausgesucht hätte, nicht Olga. Ihm gefalle Olgas rundes, strahlendes Gesicht nicht, das ihn an diesen dummen Mond an diesem dummen Himmel erinnere (vgl. S. 56).
Als sich Tatjana in Onegin verliebt, blüht sie auf einmal auf und aus dem scheuen Mädchen wird eine sehr leidenschaftliche junge Russin. „Die Liebessehnsucht lässt Tatjana nicht zur Ruhe kommen“ (S. 61). Ihre ruhelose Phantasie, ihr eigenwilliges Wesen und ihr leidenschaftliches Herz (vgl. S. 65) treiben sie sogar soweit, dass sie den ersten Schritt wagt: sie schreibt Onegin einen Liebesbrief. Denn: „Tatjana liebt mit tiefstem Ernst / und gibt sich bedingungslos und / rein wie ein Kind der Liebe hin.“ (S. 65).
Tatjana liebt ohne Verstellung und möchte, dass Onegin bis zum Grab ihr Beschützer ist (vgl. S.70). Sie gibt ihr Schicksal in seine Hände. Umso schmerzlicher ist der Schlag, den Onegin ihr versetzt, als er sie zurückweist. Zwar denkt er gern an das bleiche Aussehen und den betrübten Blick der anmutigen Tatjana (vgl. S. 80). Aber die Zutraulichkeit eines unschuldigen Herzens ausnützen? Das möchte Onegin nicht. Er preist die Vollkommenheit ihres Wesens, bedankt sich auch für den geistvollen Liebesbrief. Doch kann er sich nicht vorstellen, mit Tatjana eine glückliche Ehe zu führen: er sei einfach kein Familienmensch.
Nach der überaus deutlichen Zurückweisung wird aus der leidenschaftlichen Tatjana wieder das scheue, melancholische und schwermütige russische Mädchen. Tatjana welkt dahin. Tatjana, die in ihrem Herzen eine Russin ist und den russischen Winter liebt (vgl. S. 102). Tatjana, die abergläubisch ist und an Träume, Kartenlegekünste und Zukunftsdeutungen glaubt (vgl. S. 103).
Tatjanas Leidenschaft erwacht wieder, als sie an ihrem Namenstag Eugen Onegin wiedersieht. Sie will eine flüchtige Zärtlichkeit in seinem Blick (vgl. S. 124) erkannt haben, was sie wieder hoffen lässt. Sie liebt ihn noch zu sehr, als dass sie ihn einfach vergessen könnte. Aber „eifersüchtige Schwermut beunruhigt sie“ (S. 124) auch, wenn sie daran denkt, wie Onegin mit ihrer Schwester Olga geflirtet und getanzt hat.
Nach dem Duell, dem Tod Vladimir Lenskijs und der Abreise Eugen Onegins hält sich Tatjana gern in der Natur auf und geht lang spazieren. Ihre Mutter fängt an, sich Sorgen zu machen und meint: „Allen fährt sie in die Parade mit ihrem ewigen: / >Ich heirate nicht.< Und immer fängt sie Grillen / und wandert allein durch die Wälder.“ (S. 157). Da die Mutter endlich möchte, dass Tatjana unter die Haube kommt, wird der Beschluss gefasst, sie auf dem Moskauer Heiratsmarkt zu verheiraten. So nimmt Tatjana schließlich Abschied von ihrer Heimat und sagt: „Ich tausche eine liebgewordene stille Welt / gegen den Lärm blendender Eitelkeiten…“ (S. 159).
Tatjana fährt also nach Moskau und wohnt ab sofort mit ihrer Mutter bei einer schwindsüchtigen Tante. Die Moskauer Grazien „finden sie etwas befremdlich, / provinziell und geziert / und ein wenig bleich und mager, / sonst aber durchaus nicht übel“ (S.167). Schließlich heiratet ein General die junge Russin und Tatjana wird Fürstin.
Als sich Tatjana und Onegin nach Jahren zufällig auf einem Ball wiedersehen, zeigt die bereits Vermählte nicht mehr offen ihre noch vorhandene Leidenschaft und Liebe zu ihm. Und jetzt, wo ihr Blick ebenso kalt wie streng ist und sie keinerlei Notiz von ihm nimmt, verliebt sich Eugen Onegin in sie. Auf einmal hat er Augen für Tatjana, „nicht für jenes schüchterne, / verliebte, arme und einfache Mädchen, / sondern für die gleichgültige Fürstin“ (S. 186).
Onegin schreibt Tatjana Liebesbriefe, die sie nicht beantwortet. Und als er sie in ihrem Haus überrascht und sie quasi zu einem offenen Gespräch zwingt, ist nun sie an der Reihe, ihm eine Predigt zu halten und ihn zurückzuweisen. Mit ihren letzten Worten im Roman gibt sie ihm zu verstehen: „Ich liebe Sie, warum es verhehlen; / aber ich bin einem anderen gegeben worden. / Ich werde ihm mein Leben lang treu sein.“ (S. 198).
Die Russin Tatjana Larin als Idealbild einer russischen Frau
Viel wurde geschrieben und gesagt über die unglückliche Liebe zwischen dem gefährlichen Sonderling Eugen Onegin und der scheuen, melancholischen Tatjana Larin. Besonders über Tatjana Larins Zurückweisung am Ende des Romans gibt es viel Interessantes in der Sekundärliteratur zu lesen. Dostojewski beispielsweise pries Tatjana wegen ihrer Treue zu ihrem Ehemann und soll in ihr – wie oben schon erwähnt – die höchste Verkörperung des Wesens der russischen Frau gesehen haben. Für Alexander Puschkin, den Urheber des Romans „Eugen Onegin“, schien Tatjana das Idealbild einer russischen Frau zu sein, die Leidenschaft und entsagende Weisheit miteinander vereinen kann.
Noch heute gilt Tatjana Larin als Inkarnation echter russischer Weiblichkeit, als eine moralisch gefestigte russische Frau, die ihr eigenes Glück nicht auf dem Unglück eines anderen Menschen aufbauen möchte. Deswegen bleibt sie ihrem Ehemann treu und verlässt ihn nicht – nicht einmal für jemanden, den sie lange Zeit sehr stark geliebt hat und immer noch liebt.
Nach wie vor gehört Alexander Puschkins Roman „Eugen Onegin“ zu den beliebtesten Büchern in Russland. Viele russische Frauen sehen in Tatjana Larin ein echtes Vorbild und möchten so sein wie sie.
Ich habe den Onegin von Puschkin schon mal gelesen und fand das Buch sehr interessant. Ist halt mal was anderes, ein Roman in Versform. Kann man auf jeden Fall lesen. Die Story ist super.